Grenz_Gespinste

Grenz_gespinste…eine Recherchereise entlang des Eisernen Vorhangs

Anhand der Metaphorik des Begriffs „Grenz_Gespinste“ bin ich als Nachwendegeborene, die Erfahrungen in Ost und West gemacht hat, auf eine künstlerische Suche entlang der innerdeutschen Grenze und des Eisernen Vorhangs gegangen.
Das Gespinst beschreibt auf der einen Seite ein textiles Gewebe, aber als Hirngespinst auch das Ausloten zwischen Realität und Fiktion.

Mittels Textil, Text und Interventionen in den Grenzregionen ging ich der Frage nach was noch übrig geblieben ist von der einstigen Grenze.

Mit freundlicher Unterstützung von der Stiftung Kunstfonds im Rahmen des Stipendium für freischaffende bildende Künstler:innen (2. Auflage) von NEUSTART KULTUR

Welche Farbe hat der Osten/Westen ?

Die Künstlerinnen Vera Drebusch und Anne Reiter gingen in zwei Performances im öffentlichen Raum von Lübeck der Frage nach: Was ist der Osten und was ist der Westen?
Es ging darum, welche Bilder, welche Gefühle (Hoffnungen und Ängste) wir mit Ost und West verbinden. Es ging um ein In-Frage-stellen und Freilegen von Vorurteilen, die wir mit den Begriffen verbinden. Nicht zuletzt ging es um aktuelle Krisen. Und darum, wie Ost und West wieder näher zusammenkommen können.

Fotos von Lina Scheel und Amelie Fischer

ost.west NAHT

„ost.west NAHT“ untersucht einen Annäherungsprozess zwischen Ost und West und die textile Linie mit der die beiden Stoffe verbunden wurden. Ein Versuch freizulegen, zu verbinden, zu überwinden und miteinander ins Gespräch zu kommen. In einem textilen und audiovisuellen Projekt geht die Künstlerin Anne Reiter, die in Dresden geboren ist und seit einigen Jahren in Hamburg wohnt, Fragen rund um Identität und Erinnerungskultur nach. In Zusammenarbeit mit der Künstlerin Vera Drebusch, dem Sounddesigner Jonas Schlimbach und fotografisch begleitet von Jáno Möckel werden in großformatigen Textilarbeiten, Fotografien und Soundcollagen verschiedene Fragen rund um das heutige Verständnis von „dem Osten und Westen“ gestellt. Es wird verknotet, verfitzt, mit Körpereinsatz und der Schwere des Materials gestaltet, verändert und aufgezeigt.

Die Grundlage für das Projekt waren Interviews mit sechs Personen verschiedenen Alters und Ost-West-Identitäten. Die entstandene Soundcollage stellt Fragen, tauscht Perspektiven aus, überlagert und verbindet.

Anh Tran: *1994 Dresden, Freie Journalistin in Köln
Joan Funnah: *1991 Dortmund, Kultur- und Medienmanagement-Studentin in Hamburg
Fabian Lehmann: *1986 Eberswalde, Journalist und Kulturwissenschaftler in Wittenberge und Hamburg
Nico Nolden: *1977 Hamburg, Historiker in Hamburg

Uwe Kaspereit: *1958 Bützow, Inhaber eines Eisen- und Haushaltswarengeschäfts in Hamburg
Anke Feuchtenberger: *1963 Berlin, Professorin HAW Hamburg Illustration, Zeichnerin in Mecklenburg Vorpommern und Hamburg

„ost.west NAHT“ explores a process of rapprochement between East and West and the textile line with which the two fabrics were connected. An attempt to expose, connect, overcome and enter into conversation with each other. In a textile and audiovisual exhibition, the artist Anne Reiter, who was born in Dresden and has lived in Hamburg for several years, explores questions surrounding identity and the culture of memory. In collaboration with the artist Vera Drebusch, the sound designer Jonas Schlimbach and photographically accompanied by Jáno Möckel, the exhibition presents different perspectives around today‘s understanding of „the East and the West“ in large-scale textile works, photographs and sound collages. It is knotted, fiddled, designed, modified and shown with physical effort and the heaviness of the material.

Aktion 1: Grenzfitz

Grenzen überwinden, verbinden und sich entlangschlängeln

65 m langer textiler Faden, armdick breit, Kinderlatzhose nach Schnitt des VEB Spreewaldpuppe Kolkwitz und die alte DDR-Arbeitsjacke meines Vaters

Interventionen entlang der Elbe von Anne Reiter
Foto: Vera Drebusch

Aktion 2: Baustelle Erinnerungskultur

Geschichte gestalten, erinnern und umbauen

Gerüstschutznetz:12,5mx10m, Arbeitsoveralls mit O-Ton Karten

Intervention auf dem Platz der deutschen Einheit Vera Drebusch und Anne Reiter

Foto: Jáno Möckel

Aktion 3: lebendige Begegnungsräume (in Zusammenarbeit mit Vera Drebusch)

mit Freude Gemeinsames und Unterschiedliches entdecken

BRD- und DDR-Kissen, Jogginganzüge Ost und West

Intervention in der Stadtteilschule in Mümmelmannsberg von Vera Drebusch und Anne Reiter
Foto: Jáno Möckel

Recherche zu weiblichen Heiligenfiguren

Recherche zu weiblichen Heiligenfiguren

Auf den Spuren der Kümmernis (eine weibliche Heiligenfigur, die gekreuzigt mit Bart und langem Gewand dargestellt wurde. Nach der Legende sollte sie von ihrem Vater, einem heindnischen König zur Heirat gezwungen werden. Nach inständigen Gebeten gegen die Hochzeit, wuchs ihr ein Bart…) und der 3 Beten (eine weibliche christliche Dreiergruppe) bereisten wir Orte im Umland von München, um den Phänomenen hinter diesen Erzählungen und Figuren aufzuspüren. Entstanden ist eine fotografische Reihe, die Fragen nach Spiritualität, Erzählungen von Weiblichkeit und Genderfluidität stellt.

Foto: Irène Mélix

Performende: Lilli Döscher, Theresa Schnell und Anne Reiter

Ostkosmos

Kommentar der Künstlerinnen zur Ausstellung im Orbit, Hamburg:

„Orange, Gelb, Rot, Blau“ ist unser Erinnern an die DDR, ein Nachbild abklingender Reize. Die Wende des Kostüms, Wiederaufbau der Frauenkirche, Rundschirmlaternen, Alltag mit Krankenschwestern und schroffe Landschaften – als Künstlerinnen und Nachwendegeneration wollen wir Geschichte wieder auffalten, anders legen, zärtlich sein wo es sonst hart wird. Wir sind 1990 und 1992 in Dresden und Jena geboren sowie aufgewachsen, in unseren Familien steckt DDR- und Transformationsgeschichte. Die wachsende Sichtbarkeit des Rechtsrucks im Osten, Gespräche und Brüche mit Verwandten und das Bemerken eines „nach wie vor Andersseins“ im Kontext von Ost & West, sind Auslöser unserer Zusammenkunft. Ostkosmos ist ein Projekt, welches seit 2020 besteht und zu einem Reiseformat geworden ist. Unsere Telefone flogen zwischen Hamburg und Leipzig, getroffen haben wir uns in Jena, Dresden und Eisenhüttenstadt.  Zu Zweit und mit dem Fotografen Tillmann Engel gingen wir an jenen Orten „dem Osten von Heute“ in seiner Untrennbarkeit zu Damals nach. Auf den Reisen begleiteten uns Requisiten und künstlerische Arbeiten, die in Wirkung und Nachwirkung unserer Gespräche entstanden. Wir nahmen Interviews mit Verwandten und Personen, die über den Osten sprechen wollten, auf.

Stand Heute ist eine Sammlung von Kostümen, Fotografien, Hüten, Fahnen, Planeten und O-Tönen. Es sind vermittelnde, weibliche Ost-Figuren geworden, die die Kosmossymbolik und textilen Metaphern der DDR in sich aufgenommen haben. Sie sollen helfen, nach der Transformation Ostdeutschlands zu fragen, ambivalent zu bleiben. Was sehen wir im Osten? Was wurde im immer noch andauernden Transformationsprozess versäumt? Was können wir noch aufholen, wen können wir abholen? Wo sind Gespinste und wo sind Erinnerungen vom Winde verweht? Die ausgestellten Arbeiten zeigen unsere Aufenthalte in Jena und Dresden, einen Hauch unserer biografischen Bezüge zur DDR und der Nachwende-Zeit. Diese Ausstellung ist ein Angebot zum Sprechen und Verhandeln zwischen den Generationen sowie zwischen Ost & West.

Ostkosmos 2021

ehem. Tagebau­gebiet bei Leipzig 2021 Platten­baugebiet Jena (Lobeda) 2021 Dresden 2021

Die Reihe „Ostkosmos“ ist eine experimentelle Zusammenarbeit an verschiedenen Orten im Osten Deutschlands, die sich mit Identitätsfragen in Bezug auf den heutigen Osten, den Erlebnissen der 90er Jahre als Nachwendegeneration und dem Überwinden von Differenzen beschäftigt. Sophie Lindner und ich haben dazu verschiedene Akteur*innen eingeladen, um gemeinsam mit unterschiedlichen Perspektiven an Überschneidungen unserer Prägungen, Realitäten und dem Umraum zu arbeiten. Entstanden ist eine experimentelle Serie, in der unsere künstlerischen Arbeiten in der jeweiligen Umgebung neue Narrative aufbauen und die Frage stellen: Was der Osten heute noch ist?

ehem. Tagebaugebiet bei Leipzig

Gestartet haben wir unsere Reise bei Leipzig in einem ehemaligen Tagebaugebiet bei Leipzig am Strömthaler See. Dazu eingeladen war der Künstler Martin Wiesinger.

Das Konsumversprechen der Wendezeit und die Plattenbaurealität der DDR Zeit überlagern sich. Welche Identitäten der Nachwendezeit bleiben 30 Jahre nach der Wiedervereinigung bestehen. Wie kann Geschichte aufgearbeitet werden ohne eine ganze Region abzuwerten? Glückauf wird zum Kaufglück. Was ist aus den einstigen Tagebaugebieten der DDR geworden? Wie kann eine neue Perspektive für „strukturschwache“ Regionen im Osten gefunden werden? Was wurde aus dem Konsumversprechen der Wiedervereinigung?

Fotografie und Kostüm: Anne Reiter

Cosmic Cross (grünes Schild) und Foliearbeiten: Sophie Lindner

Modells: Sophie Lindner und Martin Wiesinger

Plattenbaugebiet Jena (Lobeda)

Das zweite Wochenende unserer experimentellen Spurensuche verbrachten wir mit dem Fotografen Tillmann Engel. Für unsere Zusammenarbeit hat er nicht zuletzt durch seinen biografischen Hintergrund eigene Fragestellungen. So ist er 1982 in Mecklenburg geboren und hat bis zur 3. Klasse in der DDR gelebt. Er gehört zur Wendegeneration, die beide Systeme kennenlernte und sowohl in der DDR als auch BRD prägende Erlebnisse gemacht hat.

Sophie Lindner lud uns in die Welt ihrer 90er und 0er Jahre ein, in das Plattenbaugebiet von Jena (Lobeda). In der real existierenden sozialistischen Idee der Plattenbauten fanden wir einen nahrhaften Umraum für unsere eigenen Überlegungen zur DDR- und Nachwendezeit. Im Experiment mit unseren Kostümen und Attributen kamen wir in Kontakt mit den Architekruren, aber auch den Menschen vor Ort.

Fotograf: Tillmann Engel

Saturne, Schwesternkleid und Laternenhut : Sophie Lindner

Dederonschürzen, Frauenkirchenkostüm, Fahnen: Anne Reiter

Dresden

Beendet haben wir die Serie in Dresden. Gemeinsam mit der Bildenden Künstlerin Lea Zepf waren wir auf Spurensuche nach Orten, die Ambivalenzen der DDR- und Nachwendezeit aufzeigen, aber auch persönliche Bezüge zu unseren Biografien aufbauen.

Begonnen haben wir an der Frauenkirche, als das vielleicht ambivalentestes Wahrzeichens Dresdens. Ich bin 1992 in Dresden geboren und kann mich in meiner Kindheit und Jugend an die Debatten um den Wiederaufbau der Frauenkirche erinnern. Als Kind war ich beeindruckt von der rießigen Baustelle in der Innenstadt und den sortierten Steinen, die aus dem Trümmerhaufen der Frauenkirche geborgen wurden, um sie in die neue Kirche einzubauen. Gleichzeitig begleitete mich der 13.Februar als Jahrestag der Bombardierung Dresdens, der jährlich von nationalistischen und fremdenfeindlichen Gruppierungen genutzt wird, um die Verbrechen der Nazizeit zu relativieren. Die Frauenkirche wurde zum Symbol des Vergessens. Die Erinnerung der deutschen Schuld der Nazizeit wird hier überlagert mit der Sehnsucht nach Schuldentlastung und dem deutschen Leid. Auch zehn Jahre nach dem Wiederaufbau 2015, in meiner Studienzeit an der Kunstakademie, die sich direkt gegenüber von der Frauenkirche befindet, wurden auf dem Platz vor der Frauenkirche geschichtsrevisionistische und fremdenfeindliche Bilder produziert. Mit der Gründung von Pegida und den Demonstrationen in der barocken Innenstadt Dresdens wird die Frauenkirche einmal mehr zum Symbol für rechte Ideologien.

Als stilisiertes Frauenkirchenkostüm haben diese Überlegungen eine Denkfigur bekommen. Ich beschäftige mich im Textilen mit der Identität der Stadt Dresden über die Rückbesinnung auf das Alte und die Barockzeit. Die bewegbare Frauenkirche versucht durch ihre Nähe zum eigenen Körper, die Instrumentalisierung von Geschichte, aufzubrechen. Durch Bewegung und haptisches, nahbares, textiles Material werden konservative Vorstellungen befragt und kommen ins Wanken. Daneben steht das Wendekostüm, welches deutsche Identitäten in der Farb- und Formensprache befragt. Schwarz, rot und gold bauen sich zu einer Mauer um den eigenen Körper auf. Das Blau und die Unregelmäßigkeiten der Farbflächen versucht die starren Bilder der Nationalfarben aufzulösen oder verschwindet ganz in der Innenseite des Kostüms. Das Wendekostüm taucht in der Friedrichstadt auf der Brücke, die über den Güterbahnhof verläuft wieder auf. Der Güterbahnhof war einer der größten Rangierbahnhöfe der DDR, wurde in der Nachwendezeit aber nahezu stillgelegt. Die Mauerstücke des Kostüms werden zu Kohlebrikkets und stellen Fragen nach den Komsumversprächen der Nachwendezeit.

Einen weiteren Zwischenstopp legten wir beim Glasbrunnen von Leonie Wirth und Helmut Kappelt am Pirnaischen Platz von 1975 ein. Der DDR Brunnen wurde zur Umlaufbahn für die Saturne von Sophie Lindner. In neuinterpretierten Dederon-Schürzen positionierten wir uns zur DDR-Architektur und fanden gegenseitige Wertschätzung.

Saturne und Fotografie: Sophie Lindner

Kostüme und Fotografie: Anne Reiter

Modells: Lea Zepf, Anne Reiter, Sophie Lindner

2.schicht 2021

(Re)Produk­tion,Halle­(Saale) 2021 Under feminist construc­tion, Bochum 2021

Mein verschwommenes Bild der DDR-Zeit wird haptisch greifbar in einer Serie von drei Outfits „2.schicht“, die ich aus dem DDR-Material Dederon genäht habe. Die Kittelschürzen-Outfits beschäftigen sich mit dem Frauenbild zu DDR-Zeiten. Die Schürzen, welche zu DDR-Zeiten von nahezu jeder Frau während der Haus- und Lohnarbeit getragen wurden, sind Synonyme für weibliche Arbeit. In Kombination mit Arbeitshosen aus Dederon werden sie zum neuen Arbeitsoutfit, welches fluide Geschlechteridentitäten zulässt. Gleichzeitig verweist die Kleidung auf die Rückentwicklung in Bezug auf das Frauenbild nach der Wiedervereinigung und einen Blick in Richtung Arbeitsrealitäten in der DDR.
Auf den Oberflächen der Kleidungsstücke sind im Siebdruckverfahren verschiedene Formen und Motive gedruckt. Dort ist das typische florale Muster der Dederon-Schürzen brüchig geworden, hat Leerstellen und Knicke bekommen und ist in der Farbgebung immer monochromer geworden. Erinnerungen verschwinden, verändern sich. Was ist im kollektiven Gedächtnis der Nachwendegeneration, die das andere System nicht mehr erlebt hat, bestehen geblieben?
Ein zweites Motiv sind Abstraktionen von Plattenbauelementen. Das Prinzip einer massenindustriell angefertigten, effektiven Bauweise, um Wohnungsnot zu beseitigen, steht neben dem Verfall der historischen Innenstädte. Ein uniformiertes Prinzip der Wiederholung wird ausgetestet, kommt ins Wanken, aber zeigt auch seine Schönheit.
Immer wieder ins Bild schiebt sich das Motiv des geteilten Deutschlands. Verspielt und in bunten Farben werden hier Ost und West zueinander ins Verhältnis gesetzt. Die Beziehung wird ausgelotet, teilweise verdecken sich die beiden Landesumrisse oder kommen zusammen.